das
knarren der tür - eine
erkenntnispraktische
utopie
erschienen in "kritik und utopie", hersg. h.c. ehalt, w.
hopf, k. p.
liessmann, lit verlag, wien 2009
eine
knarrende tür kann ein lästiges geräusch sein. man versucht,
dieses geräusch zu
meiden, ihm aus dem weg zu gehen. jedesmal, wenn man die tür
öffnet, regt sich
zorn und mißmut. die tradition der moderne, spätestens seit
john cage, erkennt
jedoch in diesem knarren eine verborgene, musikalische
qualität. wie kommt es,
dass plötzlich störende geräusche zu hörbarer musik werden?
oder anders
gefragt, wie kommt es, dass aus schlechten menschen gute
menschen werden? die
antwort: durch aufmerksamkeit, einsicht und erkenntnis.
um in
geräuschen musikalische qualitäten zu erkennen, muss das
urteil durch die frage
ersetzt werden. die frage als intensivierung der
aufmerksamkeit. die
urteilsenthaltung ist nicht bloß das resultat einer
skeptischen philosophie,
sondern vielmehr ein erkenntnistheoretisches instrument. um
das knarren einer
tür als musik zu verstehen, muß ich mich meines überkommenen
urteils über musik
enthalten. die frage nach dem, was musik ist, muss offen
gehalten werden. in
dieser offen gehaltenen frage, entsteht raum für ein
verändertes hörerlebnis.
erst in dem urteilsfreien frageraum bin ich in der lage, jene
zusammenhänge zu
erkennen, die mir erlauben, das knarren als musik zu
verstehen. die
urteilsenthaltung führt zu einem erweiterten begriff darüber,
was musik ist.
allerdings läßt sich dies leichter behaupten, als hören. der
spezifische
erkenntnisakt bei der urteilsenthaltung liegt in der
sinnlichen wahrnehmung
selbst. ist das urteil ausgesetzt, arbeiten die sinne. die
urteilsenthaltung
macht den sinn frei zu hören, was er hört. im hören des
türknarrens muß sich
diese wahrnehmung als musikalische hörempfindung erweisen. im
hören selbst
liegt die erweiterte musikalische erkenntnis.
das
knarren als musik wahrzunehmen, heißt noch nicht, dass mir
diese musik
gefallen muss. es handelt sich hier um
kein geschmacksurteil, sondern um die kategoriale
unterscheidung von
hörempfindungen. mir kann diese oder jene musik gefallen oder
nicht. mir kann
ein schlager von hansi hinterseer nicht gefallen und eine
kantate von bach
schon. trotzdem werde ich beides unschwer und ohne
nachzudenken als musik
bezeichnen. ein liebhaber der hinterseer musik wird unter
umständen die musik
von fred frith nicht als musik, sondern als geräusch oder lärm
bezeichnen. der,
der hinterseers schlager und fred friths verzerrte
gitarrenkaskaden gleichermaßen
als musikalische hörwahrnehmung erkennt, hat jenem, der nur
die hinterseer
musik als musik wahrnimmt, etwas voraus. nur ersterer ist in
der lage, ein
geschmacksurteil zu fällen, letzterer hingegen nicht. dort wo
alles eindeutig
und unzweifelhaft ist, gibt es nichts zu urteilen. doch gerade
das ist keine
urteilsenthaltung. im fraglosen lässt sich weder urteilen,
noch sich des
urteils enthalten. sich des urteils zu enthalten, hat die
bemerkenswerte
erkenntnistheoretische konsequenz, zu einem umfassenderen
begriff dessen zu
kommen, worüber ich mich des urteils enthalte, in diesem fall
der musik.
als
musik wahrgenommene hörphänomene nennen wir gemeinhin solche,
die eine bestimmte
art nachvollziehbarer, innerer ordnung aufweisen. diese ordnung
besteht aus
einem mehr oder weniger komplexen muster rhythmischer,
melodischer,
phrasierender und anderer elemente. bei zunehmender
aufmerksamkeit auf die
hörphänomene, beginnt sich dieses muster zu verändern. die
urteilsenthaltung
macht platz für die sukzessive einsicht in die
variationsfähigkeit des musters:
ein sich erweiterndes spektrum an hörerlebnissen, das ein
allgemeines muster
dessen bildet, was noch berechtigterweise als musik gelten kann.
doch was heißt
berechtigterweise? berechtigterweise könnte heißen, dass jener,
der das
türknarren musikalisch interpretiert, schlüssig und
nachvollziehbar erklären
kann, wie es jemand anstellt, das knarren als musik zu hören.
das umgekehrte
kann hingegen nie „berechtigterweise“ genannt werden. der, der
einen
geräuschmusiker davon zu überzeugen versucht, dass es sich bei
besagtem hörphänomen
um ein geräusch und nicht um musik handelt, wird in seinem
versuch erfolglos
bleiben. er kann dem anderen das hören nicht ausreden. ist
einmal das geräusch
als musik gehört, lässt es sich nicht mehr weghören, während im
umgekehrten
fall sehr wohl einer zum hören gebracht werden kann.
eine
tonfolge, die zunächst als lärm erscheint, kann mir durch den
erkenntnisprozeß
der urteilsenthaltung zur musik werden. mein überkommener
begriff von musik ist
fragwürdig geworden. das bekannte, vertraute, gewohnte hat einen
riss bekommen.
der,
der das türknarren als geordnete tonfolge wahrnehmen kann, hat
einen
komplexeren begriff von ordnung, als jener, der nur ungeordnetes
geräusch hört.
das
urteil darüber, ob mir eine bestimmte musik gefällt oder nicht,
ist semantisch
verschieden von dem urteil darüber, ob ich eine tonfolge als
musik oder nicht
musik verstehe. um ein geschmacksurteil fällen zu können, muss
ich bereits
einen nicht trivialen begriff von musik haben. d.h. musik muss
bereits mehr
sein, als bloß das, was mir gefällt. auf
die frage: „entspricht dieses geräusch, deinem begriff von
musik?“ könnte
jemand antworten: „ich weiß nicht, ich muss erst hören.“
das
türknarren ist mir als geräusch bekannt, als musik kann es mir
jedoch fremd
sein. wird mir das geräusch zur musik, dann ist mir das fremde
nicht mehr
fremd. führt die urteilsenthaltung zu einem erweiterten begriff
von musik, dann
wird unvertrautes vertraut. das zuvor unerkannte wird erkannt.
das für
unmöglich gehaltene wird möglich. reichtum, fülle, wohlergehen
und freude
fließt aus dem enthaltenen urteil.
erkenntnisgewinn
durch urteilsenthaltung entsteht nicht nur beim hören, sondern
ebenso beim
sehen, schmecken, riechen, tasten und beim denken selbst. ein
grossteil unseres
denkens, besteht aus urteilen. alle aussagesätze sind urteile
über die welt.
wie also kann durch urteilsenthaltung erkenntnisgewinn im denken
entstehen?
indem ich das denken, für die möglichkeiten des denkens offen
halte, ganz
ähnlich, wie ich das hören für die möglichkeiten des hörens
offenhalten kann.
jedes urteil bricht alle denkbaren möglichkeiten auf eine
aussage herunter. um
die möglichkeiten des denkens offen zu halten, muss anstelle des
urteils die
frage treten. nicht irgendeine frage, sondern die frage
schlechthin. die frage
als fragezustand. der fragezustand ist das aktive offenhalten
aller
möglichkeiten. erst durch die urteilsenthaltung wird das urteil
möglich. wo es
keine möglichkeit zur auswahl gibt, gibt es auch keine
möglichkeit des urteils.
wenn ich behaupte, so ist die welt, dann setze ich voraus, dass
sie auch anders
ist.
die
offengehaltene frage ist der konzentrierte mentale zustand, in
dem das denken
noch keine form der aussage gefunden hat. es ist das, was man
gemeinhin als
nachdenken bezeichnet. nachdenken ist der noch unformulierte
aber aktiv
gesuchte gedanke oder die offen gehaltene frage. denken in
fertigen urteilen
ist kein denken. das urteil muss ergebnis eines mehr oder
weniger gerichteten
fragezustandes sein. der fragezustand eröffnet die sicht auf
verborgene
möglichkeiten. urteile sind stets vorläufig und nie endgültig.
wenn ich
jemanden frage: „stellt sich für dich dieser sachverhalt so
dar?“ könnte dieser
antworten: „ich weiß nicht, ich muss erst nachdenken.“ unter
umständen dauert
dieser prozeß des nachdenkens ein leben lang.
urteilsenthaltung
und begriffsbildung stehen in einem dialektischen verhältnis
zueinander. die
urteilsenthaltung erweitert den begriff. der begriff selbst
hängt von einem
urteil ab.
ich
glaube, dass diese art der urteilsenthaltung dem taoistischen
begriff des wu
wei, des nicht-handelns, verwandt ist. dieses nicht-handeln kann
man in diesem
zusammenhang durchaus als nicht-urteilen auffassen. welche
erkenntnistheoretischen – oder besser erkenntnispraktischen -
folgen hat die
urteilsenthaltung für den begriff des menschen? sich des urteils
über den
menschen zu enthalten, bedeutet zweierlei: die urteilsenthaltung
mir selbst als
mensch gegenüber und die urteilsenthaltung dem anderen menschen
gegenüber.
weder bin ich selbst der, der ich glaube zu sein, noch ist der
andere der, der
er mir zu sein scheint.
sowohl
ich selbst als auch der andere übernehmen den durch die
jeweilige sozialisation
und biographie geprägten begriff vom menschen. dieses
konventionelle urteil ist
eigentlich kein urteil, da es sich von einer fraglosen
begriffsbildung
herleitet. der lärm ist lärm und der schlager ist musik. durch
das
konventionelle urteil unterscheide ich mich vom anderen menschen
und durch ebendieses
urteil schränke ich die möglichkeiten des begriffs vom menschen
ein. auf
grundlage dieser konvention unterscheiden wir gute und
schlechte, schöne und
hässliche, sympathische und unsympathische, lebenswerte und
unlebenswerte,
hochwertige und minderwertige, übermenschen und untermenschen.
wenn
nun aus dem lärm des menschen menschlicher wohlklang wird, dann
entfaltet sich
der begriff vom menschen aus seiner trivialen
selbstverständlichkeit zu einem
komplexen muster der menschlichkeit. der triviale, vom vorurteil
bestimmte
begriff definiert den menschen in einem sehr begrenzten, von der
eigenen
konvention bestimmten rahmen. in der regel ist diese definition
eine
antagonistische abgrenzung zum anderen, zum nachbar, zum
ausländer, zum
fremden. das was er ist, bin ich nicht und das was ich bin, ist
nicht er. der
andere ist das geräusch, ich bin die musik.
wenn
ich über mich urteile „so bin ich“, dann ist das im besten fall
die
beschreibung einer geschichte. so wie mir ein schlager von
hinterseer gefällt,
so gefalle ich mir selbst. ich gefalle mir aufgrund einer
konvention. das
heißt, ich gefalle mir, ohne mich zu kennen. um mich kennen zu
lernen, muss ich
mich in frage stellen. bin ich in frage gestellt, öffnet sich
das gehör für die
subtilen melodien der menschlichen geräusche.
auch
dem anderen menschen gegenüber, sind zunächst alle urteile
konventionelle
urteile. die konvention betrachtet den anderen als schönen oder
hässlichen, als
sympathischen oder unsympathischen, als bewundernswerten oder
verachtenswerten,
als guten oder schlechten menschen. urteilsenthaltung bedeutet
in diesem fall,
sich der möglichkeiten gewahr zu werden, in einem hässlichen
menschen einen
schönen, in einem schlechten einen guten, in einem fremden einen
vertrauten
menschen zu erkennen. es bedeutet, die möglichkeiten des sehens,
hörens,
riechens, schmeckens, tastens und denkens offen zu halten. in
den durch die
frage aufgerissenen raum hineindenken.
hat
einer die menschlichen geräusche als musik erkannt, dann ist
diese erkenntnis
ebensowenig reversibel, wie das musikalische geknarre der
schlecht geölten tür.
das einmal gedachte lässt sich wie das einmal gehörte nicht
wegreden. der
misanthrop bleibt eindeutig im nachteil. der misanthrop und der
zyniker glauben
an das schlechte im menschen. sie haben die frage nicht weit
genug getrieben
und sitzen jetzt in ihrem glauben fest. der glaube ist das
festgefahrene
urteil.
die
urteilsenthaltung weicht den hart gewordenen begriff auf und
macht ihn
durchlässig für das fremde, unvertraute, verborgene. der begriff
vom menschen
wird durchlässig für das, was berechtigterweise als menschlich
angesehen wird.
„berechtigterweise“ kann hier heißen, dass sich die menschen
nicht wesentlich
von einander unterscheiden. sie werden geboren und sterben, sie
essen, arbeiten
und lieben, sie werden durch gleiche oder ähnliche umstände zu
freude, zorn,
verzweiflung, zuversicht, etc. angeregt. sie leiden an denselben
dingen und
freuen sich an denselben und sie entwickeln ähnliche strategien,
um mit all den
wechselhaften höhen und tiefen ihres lebens handelnd zurecht zu
kommen. so wie
der organismus jedes menschen gleich funktioniert und trotzdem
jeder einzelne
organismus in details seiner manifesten erscheinung abweicht, so
funktioniert
trotz individueller abweichungen der psycho-mentale apparat
jedes menschen
gleich. auch wenn die leber des einen größer ist als die des
anderen, wäre es
absurd zu behaupten, sie funktionierten deshalb verschieden.
aufgrund der
funktionsgleichheit unserer psycho-physisch-mentalen apparate
und nicht ihrer
leicht unterschiedlichen erscheinungsformen wegen, wird es
möglich, den
fremden, unbekannten anderen, als im wesentlichen gleichen zu
erkennen. so
begegnet mir das unverständliche nicht mehr in der gestalt des
anderen, sondern
in mir selbst. der im konventionellen urteil entstandene riss,
bewirkt eine
sicht auf den anderen, die ihn mir als gleichen enthüllt. da ich
nun den
anderen in seinem mensch-sein als mir gleich erkenne, werde ich
dem anderen mit
respekt und achtung, hilfsbereit und verantwortungsvoll
begegnen. das heißt
freilich nicht, dass ich dem mörder als mörder respekt schuldig
bin. es heißt,
dass ich dem menschen im mörder respekt schulde, da ja auch im
mörder ich mich
selbst als mensch wiederfinde.
das
credo einer aufgeklärten, humanistischen utopie: die kraft
unserer sechsfachen
erkenntnismöglichkeiten in den dienst des gesamten menschen zu
stellen.
entfaltet sich durch urteilsenthaltung der begriff vom menschen,
so wird als
ergebnis genau das herauskommen, was in übereinstimmung mit den
ethischen
grundwerten aller kulturen und völker und zeiten als verbindlich
angesehen
worden ist: dass der mensch ein gemeinschaftswesen ist, das
verantwortung für
sich und andere trägt, das sich nach frieden und glück sehnt,
mord, diebstahl,
lüge, betrug für verwerflich hält, dem anderen respekt erweist
und so das, was
er als seine eigenen möglichkeiten erkennt, auch als die
möglichkeit aller
anderen versteht.